Senioren essen oft schlecht: „Über 60 Prozent sind mangelernährt“ (2024)

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Von: Jens Greinke

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Senioren essen oft schlecht: „Über 60 Prozent sind mangelernährt“ (1)

Das Thema Mangelernährung ist in deutschen Kliniken ein relevantes Problem – insbesondere bei Senioren. Geriatrie-Experte Thomas Reinbold fordert Maßnahmen.

Dortmund - Die Zahlen sind alarmierend: Jeder vierte Patient, der zur stationären Behandlung in ein deutsches Krankenhaus aufgenommen wird, leidet unter Mangelernährung. Noch schlimmer ist die Situation bei den Senioren: Hier liegt die Quote im Durchschnitt bundesweit bei über 50, oftmals sogar bei über 60 Prozent, wie Prof. Thomas Reinbold, Klinikleiter der Geriatrie am Klinikum Dortmund, im Gespräch mit wa.de sagt.

Senioren essen oft schlecht: „Über 60 Prozent mangelernährt“

Reinbold und sein Team nehmen bei der Bekämpfung dieses Phänomens eine Vorreiter-Rolle ein: Von den 2221 im vergangenen Jahr an deutschen Krankenhäusern durchgeführten ernährungsmedizinischen Komplexbehandlungen wurden allein 378 am Dortmunder Klinikum durchgeführt. JensGreinkesprach mit dem Klinikleiter über Mangelernährung.

64,53 Prozent der Patienten in der Geriatrie des Kliniku*ms Dortmund waren im ersten Halbjahr 2023 bei ihrer Aufnahme mangelernährt. Eine erschreckend hohe Zahl.

Ja. Die meisten Patienten, die zu uns in die Geriatrie kommen, sind über 80 Jahre. Das ist eine sehr vulnerable Gruppe. Viele haben gleich mehrere Erkrankungen. Wir reden hier also nicht von den normalen, fitten Senioren. Sondern von Menschen, die meist schwer erkrankt sind. Das sorgt dafür, dass die Mangelernährung zusätzlich befeuert wird. Andererseits ist es so, dass es andere Parameter gibt, die eine große Rolle spielen. Wie die soziale Armut. Die Menschen haben nicht mehr so viel Geld, alles ist teurer geworden.

Ich habe mich vor Kurzem erst mit einem älteren Patienten unterhalten und ihn gefragt, wo er sparen könne. Er sagte mir: „Am Essen.“ Da geht es nicht nur um die Quantität, sondern auch um die Qualität der Nahrung. Das ist ein relevanter Faktor für das Phänomen der Mangelernährung, das muss man ganz klar sagen. Ein weiterer Punkt ist: Diese Patienten können meist nicht mal eben mit dem Auto oder dem Rad zum Supermarkt fahren. Viele haben auch kein Smartphone, um bei Lieferdiensten etwas zu bestellen. Das kennen die nicht. Darunter leidet dann die Ernährung. Viele sind übrigens überrascht, wenn sie von uns hören, dass sie unter Mangelernährung leiden. Weil sie es selbst nicht gemerkt haben.

Senioren essen oft schlecht: „Über 60 Prozent sind mangelernährt“ (2)

Wie sieht es mit der sozialen Komponente aus?

Bei vielen sind die Partner verstorben, die Kinder wohnen weit weg. Diese Menschen sagen mir: „Ich bin allein, Herr Reinbold. Und ich habe auch kein Smartphone, sondern nur ein Seniorenhandy. Wie soll ich es denn organisieren, dass ich vernünftiges Essen bekomme?“ In diesen Fällen organisieren wir nach der Entlassung tatsächlich eine hauswirtschaftliche Versorgung über den ambulanten Pflegedienst.

Wer zahlt das?

Wenn die Patienten einen Pflegegrad haben, zahlt das die Pflegekasse. Wenn nicht, wird es oft eng. Dann müssen sie es im Endeffekt selbst zahlen. Womit wir wieder bei der sozialen Armut angelangt wären.

Unsichtbare Symptome: „Man sieht dem Patienten die Mangelernährung nicht immer an“

Definieren Sie bitte den Begriff Mangelernährung.

Man redet per Definition von einer Unterernährung des Patienten. Wobei Unterernährung verschiedene Ursachen haben kann. Entweder man isst oder trinkt zu wenig oder zu einseitig. Oder sie haben eine Krankheit, die dafür sorgt, dass die aufgenommene Nahrung nicht vernünftig verwertet werden kann. Was viele nicht berücksichtigen: Auch adipöse, also übergewichtige Menschen können unter Mangelernährung leiden. Man sieht dem Patienten die Mangelernährung nicht immer an, wir sprechen in diesem Fall von unsichtbaren Symptomen. Das ist oft auch ein Problem, wenn Kollegen nicht ausreichend für das Thema sensibilisiert sind und zu dem Schluss kommen, dass der Patient ja eigentlich ruhig mal etwas abnehmen könnte. Weil man die Mangelernährung dem Patienten nicht immer an der Nase ansieht. Deshalb muss man diese Screening-Instrumente zur Hilfe nehmen, mit denen man herausfinden kann, ob eine Mangelernährung vorliegt. Da spielt das Körpergewicht oder der Body-Mass-Index nicht immer eine Rolle.

Welche Instrumente sind das?

Wir sprechen von einer ernährungsmedizinischen Komplexbehandlung. Dafür führen wir initial einen spezifischen Screening-Test auf Mangelernährung durch und überprüfen beispielsweise, wie viel Kraft die Patienten in den Händen haben. Und wir führen eine sogenannte BIA-Messung durch. Diese Messung ist eine relativ einfache und meist nur fünf Minuten dauernde Untersuchung, die man sich wie ein EKG vorstellen kann. Wir messen damit die Körperzusammensetzung: Wie viel Fett, Wasser und wie viel Muskelmasse sind vorhanden? Aufgrund der allgemeinen Anamnese und dieser zusätzlichen Parameter entscheiden wir dann, welcher Bedarf beim Patienten bezüglich der Ernährung vorliegt. Dies fließt in einen individuellen Ernährungsplan ein, der dafür sorgt, dass der Patient schneller wieder gesund wird.

Drei von vier Patienten haben einen Vitamin-D-Mangel“

Welche Mängel stellen Sie besonders häufig fest?

Ein wichtiger Parameter ist beispielsweise die Eiweißaufnahme. Wir bestimmen auch generell bei jedem Patienten, wie viel Vitamin D er im Körper hat. Das ist nicht nur wichtig für die Knochen, sondern auch für die Behandlung des Muskelschwundes, der Sarkopenie. Drei von vier der Patienten, die wir hier in der Klinik behandeln, haben einen Vitamin-D-Mangel. Die Leute kommen im Alter nicht mehr so oft raus, weshalb die durch das Sonnenlicht angeregte Vitamin-D-Produktion im Körper abnimmt.

Wir haben hier in Dortmund schrittweise das Ernährungsmanagement eingeführt. Das heißt, dass jeder Patient gescreent wird und im Fall von Mangelernährung adäquat behandelt wird. Denn sie kann zu einer ganzen Reihe von Problemen führen. Mangelernährte Patienten haben eine längere Aufenthaltsdauer im Krankenhaus. Sie haben höhere Komplikationsraten, die die Genesung ebenfalls verlängert, wenn nicht gar gefährdet. Gerade Wunden nach OPs verheilen schneller und komplikationsfreier, wenn keine Mangelernährung vorliegt. Auch die Atemventilation in der Lunge ist bei mangelernährten Patienten schlechter. Und sie können vermehrt Herzrhythmusstörungen bekommen.

Die Mangelernährung abzustellen, ist also sowohl für die Ärzte als auch die Patienten eine große Hilfe…

Genau. Nehmen wir den Muskelschwund, der gerade in der Geriatrie eine große Rolle spielt: Wenn sie eh schon einen älteren, gebrechlichen Menschen haben, den wir in der Geriatrie auftragsgemäß wieder auf die Beine stellen wollen und der unter Mangelernährung und Muskelschwund leidet, dann müssen sie ihn auch trainieren. Er erhält eine intensive physio- und ergotherapeutische Behandlung. Gleichzeitig muss dieser Patient aber auch eine adäquate Ernährung erhalten, damit ein Muskelaufbau überhaupt stattfinden kann. Bei den geriatrischen Patienten überprüfen wir, wie viel Energie und Eiweiß er zu sich nehmen muss, führen also eine Bedarfsberechnung durch. Wir können exakt bestimmen, wie viele Kilokalorien, Eiweiß, Fett oder Kohlehydrate der Patient benötigt.

Klinikleiter aus Dortmund fordert verpflichtendes Ernährungs-Screening

Welche Schlüsse ziehen Sie aus den hier am Dortmunder Klinikum gesammelten Erkenntnissen?

Wir stehen stets im Austausch mit den Fachgesellschaften wie der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin. Es ist unsere feste Überzeugung, dass wir in Deutschland ein verpflichtendes Ernährungs-Screening brauchen für alle Patienten, die stationär ins Krankenhaus kommen. Es gab in diesem Sommer bereits eine Anhörung im Deutschen Bundestag. Ich war dort im Gesundheitsausschuss als Experte eingeladen. Die Politik hat das Thema also auf dem Schirm. Aber es ist klar: Wer ein verpflichtendes Screening einführt, bindet Personal und Geld. Es ist ein hoher logistischer und finanzieller Aufwand, keine Frage.

Dennoch lohnt es sich?

Für mich als Arzt steht zunächst der Patient im Vordergrund. Wir können durch das Erkennen der Mangelernährung eine wesentlich bessere Versorgung sicherstellen. Und eine schnellere Genesung. Nur fünf Prozent der Krankenhäuser in Deutschland können derzeit ein Ernährungsteam vorweisen. Wir sind hier gegenüber der Schweiz und Österreich deutlich schlechter aufgestellt. Hintergrund ist, dass unser derzeitiges Vergütungssystem den Einsatz der Ressource Ernährungsmedizin nicht adäquat refinanziert.

Kurz: Es lohnt sich für viele Krankenhäuser finanziell nicht. Das wird sich aber Anfang 2024 ändern, denn die ernährungsmedizinische Komplexbehandlung wird dann innerhalb des Vergütungssystems erlösrelevant. Deshalb prognostiziere ich, dass viele Kliniken 2024 Ernährungsteams gründen werden. Es gibt bereits viele Studien, die belegen, dass diese Mangelernährung die Krankenhäuser und das Gesundheitssystem viel Geld kostet. Wer mangelernährte Patienten aber erkennt und behandelt, tätigt eine mehr als kostendeckende Investition.

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